Gemüse-Innereien für Gourmets

Confierte und fermentierte Mairüben.
Confierte und fermentierte Mairüben.

Gemüse ist das neue Fleisch. Auch in der Spitzenküche. Derzeit wird wohl mehr darüber diskutiert, wie man etwa Randensaft fermentiert, als wie man ein Filet perfekt anbrät. Einer der Vorreiter für die Gemüse-Haute-Cuisine ist Heinz Reitbauer vom Steirereck, Wiens bestem Restaurant.

Für den Tages-Anzeiger besuchte ich Reitbauer in Wien. Zehn Gänge wurden aufgetischt, bei zwei Dritteln spielte Gemüse die Hauptrolle. Die Geschmäcker waren unvergleichlich. Die Präsentationen kleine Kunstwerke. Reitbauer zerlegt Gemüse in ihre Innereien, stellt Puntarelle-Herzen senkrecht in die Teller, gart Karotten-Herzen im eigenen Saft und serviert sie mit Pollen. Und natürlich seinem Signature-Dish, dem in warmem Bienenwachs gegarten Saibling.

Ein Besuch lohnt sich. Allerdings ist nicht nur das Kochen hohe Kunst, sondern auch das Essen: Wer im Steirereck ein Menu geniesst, sollte sich viel Zeit nehmen, denn jeder Gang bietet kulinarische Neuentdeckungen (siehe ganzer Tagi-Artikel unten).

Sollte man in Wien nur den Hunger stillen wollen, ist man vielleicht im Restaurant Ra’mien gut aufgehoben – dort gibts feine Nudelsuppen ohne Schischi. Und wer sich für moderne Vegi-Küche interessiert, mag sich einen Tisch im Tian sichern. Dort wird vegetarische Küche neu interpretiert, mit Gerichten, die als Tellerlandschaften serviert werden und zur Entdeckung neuer Geschmackswelten einladen. Nicht ganz so innovativ wie im Steirereck, aber trotzdem lohnt sich ein Besuch. Einzig der Service liess zu wünschen übrig: Karte wurde mir nach 20 Minuten gereicht, nach 30 Minuten kam dann mal ein Getränk. Nach 50 Minuten der erste Gang. Allein unterwegs und darum auf ein nettes Personal, das einem willkommen heisst, angewiesen, war ich diesbezüglich im Tian enttäuscht.

Hier der ganze Artikel über Heinz Reitbauer, der am 24. Februar 2013 im Tages-Anzeiger erschienen ist:

Kann man das Gemüse noch neu erfinden? Aber sicher, wie ein Besuch beim Spitzenkoch Heinz Reitbauer in Wien zeigt.

von Esther Kern

Wer im Steirereck in Wien isst, macht Bekanntschaft mit den Innereien von Gemüse, etwa mit einem Rübenherz oder mit Artischockenmark. Und er entdeckt vegetarische Zutaten, von denen er noch nie gehört hat. Spitzenkoch Heinz Reitbauer vom Steirereck, Platz 11 auf der Liste der weltbesten Restaurants und mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnet, beschäftigt sich seit Jahren mit der Zubereitung von Gemüse auf Sterne-Niveau. Und liegt damit mittlerweile voll im Trend. Denn: Noch nie waren vegetarische Zutaten ein so heiss diskutiertes Thema in der Spitzengastronomie wie heute.

Dass man damit Erfolg haben kann, zeigt Reitbauer im Steirereck, idyllisch mitten im Stadtpark in Wien gelegen. Artischockenböden werden hier in feinste Scheiben geschnitten und gerollt. Die Schwarzwurzel gart in Kamillen-Ziegenmilch. Von der gelben Rübe liegt das Herz auf dem Teller. Und Puntarelle, die Herzen einer Ciccorien-Art, stehen stramm im Teller, nachdem sie blanchiert und mit Estragon und Nussbutter sautiert wurden. Ein Genuss, optisch wie geschmacklich. Im Steirereck wird Gemüse so behandelt, als wärs ein Rindsfilet oder ein Chateaubriand.

Herr Reitbauer, Sie leisten in der Spitzengastronomie Pionierarbeit. Wie sind Sie überhaupt aufs Gemüse gekommen?
Meine Familie hat selber eine kleine Landwirtschaft in der Steiermark, die zu einem zweiten Restaurantbetrieb gehört. Von daher hatte ich schon immer diesen respektvollen Zugang zum Essen. In meiner Küche war die Gemüsebeigabe immer ein wichtiger, sehr komplex gedachter Teil. Im Steirereck haben wir diesen akzentuiert.

War das schwierig?
Bei den Gästen gar nicht, die haben das verstanden. Die Fachwelt hat uns aber schnell in die Gemüseschublade gedrängt, was ich nicht so mag. Bei uns gibts ja durchaus auch exzellenten Fisch, ausgezeichnetes Fleisch.

Was bringt das Gemüse der Gourmetküche?
Beim Fleisch ist die Vielfalt wesentlich kleiner als beim Gemüse. Wenn Sie beim Fleisch eine gewisse Vielfalt wollen, landen Sie schnell mal bei einzelnen Rinderrassen. Das ist geschmacklich ein schwieriges Thema. Ich kenne wenige, die zwischen einem Limousin- und einem Angusrind unterscheiden können. Ich selbst würde mir bei einem Blindtest wahrscheinlich auch die Finger verbrennen. Beim Gemüse ist das etwas anderes: Zwischen einer Beta-Sweet-Karotte und einer süssen Violetten etwa gibt es klare geschmackliche Unterschiede.

Woher nehmen Sie Ihre Ideen für aussergewöhnliche Gemüsekreationen?
Die Inspiration entsteht vor allem aus der Zusammenarbeit mit Produzenten. Ich arbeite seit über 20 Jahren mit Gemüsebauern zusammen, gemeinsam handeln wir uns immer wieder ein Stückchen weiter. Neulich habe ich etwa zwei Früchte aus Südamerika erhalten, deren Steine ich nun einem Produzenten gebe, um zu sehen, ob die Pflanzen hier wachsen.

In Ihren Menüs begegnet man vielen unbekannten Zutaten. Die Schwarzwurzel etwa wird mit Crackers von Samen der Chia-Pflanze serviert. Wie haben die Chia-Samen zu Ihnen gefunden?

Auch da war ein Produzent im Spiel. Er hat mir Chia-Samen in einer Probepackung geschickt. Wir experimentierten hier damit und sind bei den Crackers gelandet. Chia-Samen quellen schnell, wenn man sie aufweicht, man presst sie, lässt sie danach einfach trocknen und brät sie an. Ganz simpel, eigentlich.

Die Crackers schmecken leicht nussig und sind für den Gast eine spannende Entdeckung, die neugierig macht. Chia-Samen gewinnt man von einer Salbeipflanze, die ursprünglich aus Mexiko stammt und heute hauptsächlich in Zentral- und Südamerika angebaut wird. Von dort stammen auch die Litschi-Paradeiser, die im Puntarelle-Gericht für einen knallroten Farbtupfer sorgen. Die Litschi-Paradeiser sind wider Erwarten keine Tomaten, sondern kleine Früchte, mit der Physalis verwandt. Reitbauer bezieht diese Exoten aus Oberösterreich, wo sie mittlerweile kultiviert werden.

Doch er lässt nicht nur pflanzen, er pflanzt auch selber an. Rund 100 verschiedene Kräuter wachsen in der warmen Jahreszeit rund ums Steirereck und auf der Dachterrasse in Töpfen. Die Topfpflanzen werden nicht etwa vom Gärtner, sondern von der Küchenmannschaft selber gepflegt.

Warum stellen Sie keine Gärtner an?
Nein, das würde ich nie wollen, lieber ein Mitglied in der Küchenmannschaft mehr. Wenn man das Lebensmittel selber zieht, hat man einen ganz anderen Zugang dazu, als wenn man es einfach kauft. Das versuche ich mit allem, was ich tue, zu vermitteln.

Hat der Trend hin zu vegetarischen Zutaten auch mit modernen Zubereitungsmethoden zu tun?
Ja, sicher. Wir können Gemüse heute ganz anders zubereiten als früher. Sous-vide-Garen, also im Vakuum kochen, setzen wir sehr oft ein – aber das ist ja nichts Neues. Auch das Vakuum-Infusieren ist wichtig (Anm. d. Redaktion: eine moderne Art des Marinierens). Davon lesen Sie jedoch auf unseren Kärtchen, auf denen die Menüs für die Gäste beschrieben sind, nichts. Denn wir wollen die Produkte in den Mittelpunkt stellen.

Sie arbeiten auch mit Fermentation, etwa mit Milchsäuregärung, die man hauptsächlich vom Sauerkraut oder auch von asiatischen Zutaten wie Misopaste oder Sojasauce kennt. Nun belebt die Spitzenküche diese Methode neu.
Vieles ist fermentiert. Es fängt beim Wein an. Fermentation ist ein Thema, das den Geschmack der Küche sehr bereichert, manches ist asiatisch inspiriert. Bei uns hält das Fermentieren von Lebensmitteln immer stärker Einzug. Natürlich fehlt uns teilweise noch das Wissen.

Wie gehen Sie das an?
Kontrolliert, mit einem guten Grundverständnis fürs Produkt. Je nachdem, ob wir Saft fermentieren oder das Gemüse selber, haben wir spezielle Bakterienkulturen in Gär-Behältnissen. Wir fermentieren zwei bis maximal sechs Wochen.

Das Resultat der Experimente im Steirereck ist dann etwa ein fermentierter Rübensaft, der, angereichert mit Leindotteröl, ein Gericht als Sauce begleitet. Solche Kreationen bringt Reitbauer nicht nur auf die Teller, um seine Gäste zu überraschen. Er will auch den Alltag seines Teams bereichern. Man müsse ja auch Spass haben, und ohne Veränderungen bleibe ja ganz einfach nur noch die Arbeit. Trotzdem ist Reitbauer konstant in der Sache. Nicht nur ist er Vorreiter für innovative Gemüsezubereitung. Er setzte auch sehr früh auf lokale Produkte. Als Küchenchef im zweiten Familienbetrieb in der Steiermark bezog er Lebensmittel schon in den 90er-Jahren ausschliesslich von lokalen Anbietern.

Regionale Produkte sind neben Gemüse ein weiterer Küchentrend. Wird das anhalten?
Es ist schon sehr, sehr richtig, was wir damit praktizieren. Aber ich sage seit acht, neun Jahren: Was kommt danach? Die Gefahr ist ja, dass sich die Gäste irgendwann langweilen, der Sache überdrüssig werden. Und sich abwenden.

Wo sehen Sie Potenzial für eine Weiterentwicklung in der Spitzengastronomie generell?
Ein wesentlicher Punkt, um eine neue Küche zu etablieren, ist, dass man auch neue Produkte etabliert, um damit auch wieder einen neuen Geschmack zu etablieren. Das können Sorten sein, die in Vergessenheit geraten sind. Und auch Produkte, die klimatisch vielleicht passen, uns aber bisher nicht erreicht haben. Denkbar ist auch, dass wir durch den klimatischen Wandel neue Produkte in unserem Land etablieren können.